Ist ja nicht so, als ob ich mit dem Typen jemals einmal eine Union (siehe Titel, der gleichzeitig ein Songtitel der Band Yeasayer ist) eingegangen wäre, ich kenne ihn ja nicht mal richtig, aber die gestrige Busfahrt mit diesem einen Kommilitonen geriet zu einer eigenartigen Kürzestreise.
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Als ich ihn vor zwei Semestern das erste Mal im Gebäude unserer Uni-Fakultät (Philosophische Fakultät I) sah, war ich von seiner Schnuckeligkeit und gleichzeitigen Stylishness geplättet. Schnuckelig machten ihn die eher geringe Körpergröße, schätzungsweise max. 1,73m, die hellen roten Haare und unschuldigen braunen Augen, die hinter einer Brille mit markanten schwarzen Rändern und rechteckigen Gläsern hervorlugten. Stylish waren hingegen seine schlanke, aber nicht dürre Figur, der Fasson-Schnitt seiner indie-mäßigen Frisur, die hellbraune Slim-Hose und die dunkelbraunen Glanzledersneakers.
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Es war der Dienstag der zweiten Woche der Vorlesungszeit im Wintersemester 2009/2010. Als Student der Hauptfächer Englisch und Sozialkunde (Politik- und Sozialwissenschaft) und des Erweiterungsfaches Geschichte hatte ich mir damals noch überlegt, eine Veranstaltung des letztgenannten Faches zu besuchen.
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Kleiner Exkurs:
In Geschichte brauche ich demnach keine verpflichtenden Scheine, Leistungsnachweise durch Klausuren oder Seminararbeiten, zu machen. Einen Grundkurs für Neuere Geschichte (ca. 1500-1800) kann, muss ich aber nicht besuchen, wird mir für einen Studi des „alten Lehramt“ (nicht modularisiert, auf Basis vom „alten“ Magister, nicht vom noch neuen Bachelor) aber auch sowieso nicht angerechnet. Ich war wegen dieser freiwilligen Wahl demnach nur ein einziges Mal in „Neuere Geschichte“. Und wegen der eher ekligen Uhrzeit von 19.15 bis 20.45 Uhr.
Jeeeeedenfalls: dieser Typ war auch darin, wirkte wie ein noch leicht unbeholfener „Ersti“ (Student im ersten Semester) und über sein Dasein hatte ich mich natürlich gefreut.
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Sommersemester 2010. Montag der zweiten Woche der Vorlesungszeit dieses Semesters. Einführung in die englische Fachdidaktik. Ich sitze seit fünf Minuten in einem für den 40 Mann/Frau starken Einführungskurs viel zu großen Hörsaal. Es kommen zwei Typen in den Hörsaal herein, der eine braun- und kurzhaarig, blauäugig und mit ränderloser Brille, der andere wohl dessen Kumpel. Oh, er fällt mir sofort, es ist der Rothaarige vom damaligen späten Dienstag! Jawohl, ich werde mehr als nur eine Sitzung mit ihm verbringen, auch wenn er in den Wochen auf der rechten, statt nahe bei mir auf meiner linken Seite, ganz außen sitzen wird. Mit seinem Kumpel.
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Wochen später, an der letzten Sitzung vor der gefürchteten Klausur, die ich später mächtig versemmeln werde, hält er und sein dick und dünn gehender Kumpel ein Referat, deren Thema ich auch längst wieder vergessen habe. Ich weiß nur dunkel, dass einer von ihnen Hendrik und der andere Philipp heißt. Nun, beide Namen ähneln sich, was die Zielgruppe Mittelschichts-Eltern angeht, die ihren Sohnemann vor 20 bis 25 Jahren halt einfach so nannte. Beide könnten also sowohl Philipp als auch Hendrik heißen. Der Name Philipp ist natürlich einen Tick oder fünfundzwanzig Ticks schöner, also wohl passender für den Stylo-Schnuckel. Erst hält sein blauäugiger Kumpel, derselbe wie der vorhin beschriebene. Er hat eine leicht herbe Stimme und ein etwas biederes Aussehen als der Rotschopf. Dann hält, ich nenne ihn jetzt einfach so, Philipp. Wie erwartet hat er eine etwas hohe, aber sympathische und definitiv zum Lehren geeignete Stimme. In Kombination mit der detaillierten vorigen Beschreibung seines Äußeren lässt sie ihn noch mehr zum verpeilt wirkenden Indie-Mode-Nerd wirken. Wahrscheinlich nicht gay, eher bisexuell, aber am wahrscheinlichsten metrosexuell, aber nicht, wie ihr jetzt denkt, auf eine nicht übertriebene Art und Weise. Ach, Philipp!
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Meine Kursgefährtin Kathrin, mit der ich nicht nur das Referat viele Sitzungen vorher hielt, sondern auch so einige Schwätz-Unterhaltungen während des Kurses, wurde von befragt: „Sag mal, der rechte mit den roten Haaren, wie findest du den so?“ Sie: „Der??? Nee, also, hmm, nääh! Gar nicht mein Fall! Wieso stehst du den gerade auf den?“ „Ach, komm, der ist doch echt mal süß mit seiner Brille.“ „Viel zu sehr Nerd, und sein weißes T-Shirt ist so faltig wie der zerknüllte Entschuldigungsbrief meines Ex, der fremdging.“ „Aber...“ „Na, wenn schon, dann sein Referatspartner.“ Oder der bauernhafte Fußballfan mit dem rollenden "r", dessen Schlafzimmerblick sie immer so sexy finde, aber ich eher nicht so.
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Ey, Vorgeschichte mit Überlänge! Und jetzt ist die eigentliche Story über deine Busfahrt bestimmt noch langweiliger als deine vorige Anschmacht-Geschichte aus der Ferne. Oder?
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Weiß nicht, musst du selbst entscheiden. Gestern Abend, Wintersemester 2010/11, zweiter Mittwoch der Vorlesungszeit, wartete an der zentral gelegenen Uni-Bushaltestelle „Universitätszentrum“ eine Menge Menschen auf den Bus in Richtung Hauptbahnhof. Mit drei Minuten Verspätung (was zu anderen Zeiten ungewöhnlich wäre, aber vielleicht doch nicht ganz zu Rush-Hour-Zeiten) kam er endlich. Ich stieg als einer der letzten ein und wollte einen Doppelsitz-Platz ganz hinten ergattern, an dem ich alleine sitzen würde. Den gab es natürlich nicht.
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Ich hatte aber am angelangten Ende des Busses drei Möglichkeiten. Erstens, ich setze mich auf den letzten freien Platz der Viererreihe ganz ganz hinten, der links und rechts von lauten Vollidioten flankiert war. Zweitens, ich setze mich neben einen Typen, dem ich schon oft in der Uni begegnet war, ähnliche Geschichte wie bei „Philipp“, sehr hübsch, nur weniger modefixiert als „Philipp“, eher auf lässige unprätentiöse Art gut gekleidet, Soziologie-Hauptseminar statt Englisch- oder Geschichtskurs, Asia-Migrationshintergrund wie bei mir, jedoch deutscher Vorname, hatte sogar ein paar wenige Sätze mit ihm in jenem Seminar gewechselt. Wäre mir aber irgendwie leicht unangenehm gewesen, neben einen attraktiven Typen zu sitzen, den man kaum kennt Drittens, ich setze mich neben „Philipp“.
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In dieser Situation entschied ich mich spontan für letztere Option, obwohl auch attraktiver und kaum gekannter Nebensitzer und daraus resultierender Unsicherheit. „Philipp“ trug einen schwarzen langen wolligen Mantel mit Kapuze, eine beige Hose und schwarze flache Stoffsneakers. Hellblaue Umhängetasche. Jedes Teil für sich war stilvoll, aber zusammen sah es etwas komisch aus, die Kleidungsstücke waren zwar farblich nicht ideal aufeinander abgestimmt, machten aber dafür einen sympathisch-verpeilten Eindruck, der wiederum doch zu ihm passt. Frisur und Brille bleiben aber wie vor zwei Semestern dieselben.
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Als ich mich jedoch neben ihn setzen wollte, konnte ich das nicht optimal, weil seine Tasche etwas aus seiner „comfort zone“ herausragte und etwas von meinem Sitzplatz einnahm. Ich saß also parallel zu seiner Messenger Bag (oder war es eine Laptop-/Netbook-Tasche?) etwas angeschrägt in Richtung Buskorridor, also irgendwie leicht draußen. Machte mir aber nicht viel aus, die Mischung aus Freude (über das Sitzen neben „Philipp“) und Verunsicherung (wegen des Sitzens neben dem von mir angeschmachten „Philipp“) überwog, manchmal schaute ich ihn aus meinem linken Augenwinkel an, versuchte es zumindest. Tolles Kinn, bemerkte ich in meinem Kopf. An der Mitte der Busstrecke angelangt, regt sich „Philipp“, der nach seiner Tasche greift. Ich wollte dies schon als Reaktion auf das baldige Aussteigen aus dem Bus deuten, und wollte vom Sitz aufspringen, um ihm dafür Platz zu machen, doch da nehme ich über meine Kopfhörer meines MP3-Players ein „Nee, nee“ aus seinem Mund wahr. Ich dreh mich schnell zu ihm hin und bin für eine Millisekunde leicht verwirrt. Er sagt anschließend leicht verschämt „Sorry“. Ich bin noch verwirrter und frage schnell: „Hm, wieso denn?“ „Ich hab mit meiner Tasche so breitgemacht.“ „Oh, ach, kein Ding!“. Ich grinse ihn an und drehe mich wieder zurück. Ich grinse in mich hinein, weil ich seine Stimme wieder gehört habe.
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Und dann denke ich: „Hey, das wäre doch DIE Chance, ihn mal richtig kennenzulernen!“ Ich überlege in den nächsten drei Minuten, ob und wie ich das Mini-Gespräch gerade fortsetzen sollte. Ideal wäre es, ihn auf die Dozentin unseres damaligen gemeinsamen Englischkurses anzusprechen oder über den Kurs. Es wäre DIE Gelegenheit gewesen! Dann fiel mir aber ein, dass es aber peinlich wäre, dies zu tun, weil ich die Klausur ja damals nicht bestanden hatte und denselben Kurs, diesmal bei jemand anderes, wiederholen muss. Schweigen. Ansonsten gäbe es nur wenige Möglichkeiten fürs Ansprechen, schon eine Bewunderung für seine Tasche käme käsig herüber. Ich frage mich, was er in diesem Moment wohl denkt, was er gerade von mir denkt, ob er in seinem Leben überhaupt einen Gedanken an mich verschwendet hat. Eineinhalb Minuten vor dem Erreichen meiner gewünschten Haltestelle: „Ähm, könntest du mal auf den roten Knopf da drücken?“ Ich verstehe sofort, dass „Philipp“ aussteigen will, auch aussteigen will. Ich: „Klar, ich muss hier auch gleich raus!“ Ich bleibe nüchtern-freundlich, er auch. Dies sollte meine notorische Unsicherheit gegenüber Menschen allgemein und Männer speziell übertünchen.
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Ich traue mich immer noch nicht, ihn richtig anzusprechen. Später steigen wir gemeinsam aus, erst ich, dann er. Wir warten noch an derselben Fußgängerampel auf ihr Grünwerden, überqueren dann die Straße, laufen noch ca. 30 Meter zusammen, ohne ein Wort zu sagen. Wir sind ähnlich schnell im Laufen. Als ich noch in meiner Tasche krame, ahne ich, dass „Philipp“ bald nicht mehr den Fußweg mit mir teilen wird, denn er biegt dann rechts in ein Gässchen ein. Das war es wohl für heute. Ich seufze leise und melancholisch. Ich stelle ich gedanklich mir vor, wie ich eine Strichliste mit der Überschrift „Verpasste Chancen“ um einen weiteren Strich erweitere.
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